Ulrich Eller
 
 
 
 
 

Bambus

 

Die Stämme sind völlig glatt und stehen dicht den Hang hinunter. Eine kleine Straße führt in kurviger Bewegung mitten hindurch. Wir gehen langsam den Hügel hinauf. Die Geräusche der Stadt, vorher noch klar identifizierbar, sind plötzlich merklich gedämpft. Die Blätter wirken wie Schallschlucker, wie ein wattierter Vorhang, ein gewachsenes und sehr dichtes Gewölbe. Ich stehe unter einem schützenden Dach. Durch den unterholzfreien Boden wirkt der Bambushain wie die Architektur eines hörbaren Innenraums. Ich stelle mir vor, wie sich die Stämme bei starkem Wind bewegen, aneinanderschlagen und arhythmische, perkussive Laute erzeugen. Es ist völlig windstill, doch ich denke beim Anblick dieser glatten und leicht gebogenen Stämme an Bewegung, an Sturm und versuche die extreme Elastizität dieser hohen Gewächse in ein Hörbild zu übertragen. Ich bilde mir ein, die hohlen Stämme aufeinandertreffen zu hören, wie sie reibende und schlagende Geräusche erzeugen und sich unter der Kraft der Windböen in alle Richtungen biegen, wie Trommelstöcke im Wirbel.

 

Kyoto, September 1994

 
 
 
 
 
 

Dachschaden

 

 

In meiner Jugend, als ich ungefähr 19 Jahre alt war, besuchte ich die Kunsthalle in Kiel. Da ich am Rande von Europa, also in Dithmarschen und daher auch beinahe exakt geografisch am gegenüberliegenden Rand von Schleswig-Holstein aufwuchs, jedenfalls aus der Perspektive von Kielern, und die Kunsthalle der außerordentlichste Ort für Gegenwartskunst in Schleswig-Holstein war, erhoffte ich mir eine Erweiterung meiner irrational abseitig ländlichen Perspektive durch einen Besuch. Mein Ziel war eine umfassende Präsentation von kuratierten Einzelpositionen der Pop Art, es kann aber auch eine Andy Warhol Ausstellung gewesen sein, sofern ich mich richtig erinnere. Sofort nach Betreten der Ausstellung und in großer Erwartung Originale sehen zu können kulminierte meine ganze Aufmerksamkeit allerdings auf eine Anordnung von unterschiedlichen Eimern, die locker verteilt auf dem Boden des großen Ausstellungsraumes standen. Sie befanden sich in dieser Anordnung um das durch die Decke tropfende Regenwasser aufzufangen, was mir aber erst später klar wurde. Anfänglich war das Szenario in meiner Wahrnehmung keineswegs bestimmt durch einen Dachschaden und die Prävention eines Hausmeisters, sondern durch den auratischen Moment des musealen Kontextes und des Klangs. Für mich war dies eine außergewöhnliche Situation, die mich fesselte und die zufällige Vielfältigkeit der Eimer in ihren Ausführungen ein weiterer Beleg für die Annahme einer künstlerischen Intervention. Dazu kam das äußerst unterhaltsame akustische  Geschehnis der tropfenden Decke, das Spiel der fallenden Tropfen aus großer Höhe, denn es regnete draußen gerade in Strömen und die Art der hörbaren Durchlässigkeit des Daches produzierte ein für meine Ohren bezauberndes Konzert von unterschiedlich schnellen akustischen Impulsen und einer großen Bandbreite resonierender Eimer in diversen Tonhöhen und Rhythmen. Noch nie hatte ich einen solchen konzertanten Moment erfahren, so realitätsnah an der Substanz eines Bauwerks. Ich verstand das Ganze als eine geniale Inszenierung von architektonischen Materialgeräuschen, hier bestimmt durch die Situation unter den Bedingungen der Architektur, des musealen Raums und dem Eigenleben des Flüssigen, des Wassers, mit seinen akustischen Aggregatzuständen. Meine Begeisterung war groß. Auf meine Frage an das Aufsichtspersonal, wer denn die vollen Eimer ausleert und ob dem Ganzen ein komponierter Ablauf zugrunde läge, ergab allerdings sehr schnell und eindeutig, dass nur das Dach der Kunsthalle defekt war und die Eimer den Wasserschaden begrenzten.

Heute, fast 40 Jahre später habe ich Studenten, die mit dieser Strategie Kunst machen. Und das beruhigt mich sehr.

 

Norderheistedt, Februar 2011

 
 
 
 
 
 

Die Bedeutung von Klang in der szenischen Präsentation

 

Der etwas umständliche Titel zielt auf den Zusammenhang dessen, was auf einer wie auch immer gearteten Bühne aus der Sicht des Publikums geschieht und mit Ausnahme der Pantomime immer schon da ist. Dass ein Sprecher spricht, ein Chor singt oder ein Orchester spielt und dass Töne, Klänge und Geräusche im Sinne einer Handlung als Wirkungsverstärker eingesetzt werden, steht seit Einführung des Musiktheaters außer Frage. Ist aber die Rede von Klang in einem szenischen Kontext, so erweitert sich nicht nur das Begriffsfeld Musik, sondern es erhebt letztendlich alles Hörbare zum Gestaltungsmaterial.

Meistens höre ich zu, wenn ich entweder gespannt darauf bin, was als nächstes kommt, also wie es weitergeht, oder ob es so weitergeht, wie ich denke, oder weil ich etwas so Außergewöhnliches höre und dieses Hören in mir ein neues assoziatives Fenster öffnet und ich entweder erfahren möchte, was es ist, oder woher es rührt, da es plötzlich existiert, als ob es von nirgendwo herkommt und meine Wahrnehmung unvorbereitet trifft.  

Der Frage nachzugehen, warum man eigentlich überhaupt zuhört, ist aufschlussreich: handelt es sich beispielsweise nicht um einen sprachlichen Informationsaustausch, dann muss das Ohr von etwas anderem angeregt werden, um bei der Sache zu bleiben. Vielleicht reagieren unsere rezeptiven Sinne immer nach dem Schema der Realitätsanalyse und der Bedeutungsabfrage, sowie daraus ableitend nach dem Prinzip des Weghörens, wenn etwas erkannt und identifiziert ist. Vielleicht wird durch diese Befähigung des Ausblendens urbanes Leben erst erträglich, Weghören als Strategie. Aber dies ist momentan nur eine Nebenbetrachtung.

Vielmehr besteht eine Szene oft aus einem audiovisuellen Angebot, einem hochkomplexen Verhältnis aus Gesten, Verlautbarungen und Inhalten. Wie etwas „gemeint“ sein kann, ist häufig das Resultat eines sofortigen Abgleichs von ähnlich Erlebtem und einem genauen Wahrnehmen von Zwischentönen, jedenfalls einer fortdauernden und sofortigen Analyse unter Zuhilfenahme unseres weitreichenden Erfahrungsrepertoires. Hier an dieser Sollbruchstelle entstehen eigentümliche Spannungen aus dem Gegensatz von Reflexion und Emotion. Alles was unserer Analyse nicht passgenau erscheint, erregt schlagartig unser Interesse. Für den Musikalisierungsprozess in der szenischen Präsentation bedeutet dies die Möglichkeit einen latenten Hunger nach assoziativ besetzbaren Momenten und Augenblicken zu choreografieren. Denn genau diese offenen Sinngehalte transportieren sich wie von selbst und machen ein scheinbar zweckfreies Geräusch zum eigentlichen Impulsträger einer anderen Form audiovisueller Inszenierung.

Diese Art von Zweckfreiheit ist es auch, die in der Klangkunst vor allem in ihren installativen und performativen Ausprägungen unter Anwendung elektroakustischer Klangproduktionen und elektronisch erzeugten Geräuschwelten zielgerichtet angestrebt wird. Hier im Spektrum der Computermusik bestehen die periodische Schwingung (Ton) und die harmonierenden periodischen Schwingungen (Klang) nur als Sonderfälle im Kosmos der Geräusche. Mit diesem akustischen Werkzeug lassen sich Höreindrücke inszenieren, die als Klangmaterial selbst völlig abstrakt eingesetzt werden können.

Darüber hinaus existiert die Möglichkeit der Freistellung der Klangproduktion als theatrale Form. Das Audiovisuelle thematisiert sich dabei nicht über ein Bild, sondern stellt den Moment des Hörens und das Sichtbarmachen der Klänge und Geräusche als Handlungsmotiv in den Vordergrund und wird zur Aufführung gebracht. Eingebettet in einen Handlungsrahmen, bei dem die Hörbarkeit die darstellerische Aktion bestimmt, wird Klang oder Geräusch zu einem neuen Erklärungsansatz für dieses Handeln. Interessant sind an dieser Stelle jene dramaturgisch gestalteten Handhabungen als akustische Experimente, die eine konkrete Erwartung evozieren und enttäuschen, bzw. sublimieren, oder realitätsabgewandte und völlig überzogene Phänomene als Lösung anbieten.

 

 Norderheistedt, Februar 2009

 

 

 
 
 
 

Die Nacht unterwegs

(eine nächtliche Hörreise)

 

Ich fand das Hotel ziemlich spät, beinahe als letzte Möglichkeit und war froh einen halbwegs akzeptablen Ort für die letzte Nacht in Spanien gefunden zu haben.

Neben der Ausfallstraße in Richtung der nächsten Stadt, an der das Gebäude stand, war ein freies Feld, fast so groß wie ein Fußballplatz, mit parkenden vereinzelten LKW´s und Trucks. Beim Anblick der wie verloren wirkenden Fahrzeuge auf der riesigen freien Fläche dachte ich für einen kurzen Moment, wie viele von diesen Riesen da wohl hinpassen würden.

In der Cantina, dem Bewirtungsraum, gab es einen Tresen, an dem ich die Schlüssel für das Zimmer bekam und gleich bezahlte. Dieses Prozedere vollzog sich ganz reibungslos und in alltäglicher Routine. Der ältere Mann mir gegenüber war anscheinend alles zusammen: Empfangschef, Barkeeper, Ober, Hausmeister und vielleicht sogar auch der Inhaber dieser Herberge. Er sprach mit mir nur soviel wie unbedingt notwendig, ohne ein Wort zu verschwenden.

Das Gebäude hatte zwei Etagen, die exakt gleich aussahen: Ein langer Flur, von dem rechts und links die Türen zu den Zimmern abgingen.

Mein Zimmer war im oberen Geschoss.  Als ich eintrat, fand ich zwei Betten, die den Raum beinahe ausfüllten, und kein Fenster. Dafür eine Eisentür zur Dachterasse und einen Schrank und ein winziges Bad.

Um zu lüften, öffnete ich die schwere Tür und betrat den Platz vor dem Zimmer.  Mittlerweile war es dunkel geworden. Es war immer noch warm. Die Luft wurde kaum kühler.

Ich stand vor der offenen Tür auf einer großen freien Betonfläche, auf der sich in einer Ecke Kisten mit Leergut stapelten. Der Bereich diente anscheinend dazu Dinge, die woanders im Wege waren, hier abzustellen und vor allem aber die anfallende Wäsche zu trocknen. Über der gesamten Terrasse waren Leinen und Drähte kreuz und quer gespannt und an einigen hingen weiße Laken, die schon lange getrocknet waren. Sie fielen schlapp von der Leine, es ging kein Windzug. Ich überlegte, ob ich die Tür über Nacht auflassen könnte.

Dann waren da aber die Geräusche der laufenden Motoren. Ich befand mich zwar auf der vom Parkplatz und der Straße abgewandten Seite des Gebäudes, aber in der Stille des Abends drang es herüber: Die  Stehenden mit laufendem Motor von diesem Parkplatz gegenüber und die Vorbeifahrenden von der Ausfallstraße. Der abendliche Verkehr hörte sich an wie ein nicht endendes, gezogenes Band aus unterschiedlich intensiven Motorengeräuschen, die lauter und leiser wurden. Sie kamen intervallartig aus beiden Richtungen, wurden immer lauter, je näher sie waren, dröhnten vorbei und verliefen sich in der immer größer werdenden Distanz zum Ohr. Wenn sie sich direkt und nah aus beiden Richtungen trafen, ergab sich eine Art Crescendo, ein kurzer lauter Höhepunkt. Manchmal wurde es weniger. Ich hoffte, dass der Verkehr vielleicht nachließe und ging zurück in das Zimmer. Erstmal ließ ich die Tür auf. Ich war mir sicher, dass im Laufe der Nacht immer weniger Verkehr sein würde. Dann löschte ich das Licht wegen der Insekten und legte mich auf das Bett, gleich hinter der offenen Eisentür und versuchte zu schlafen.

Nach ein paar kurzen Momenten schweiften meine Gedanken ab und die Müdigkeit begann zu wirken. Aber ich schlief nicht ein, weil mich eine laute Störung wieder zurückholte. Jemand war auf der anderen Seite der Terrasse tätig und hantierte im indirekten Lichtschein einer offen gelassenen Tür mit Glasflaschen. Leergut wurde zurückgestellt. Dabei machte es dieses typische Geräusch, wenn die Flasche in ihre Position in die Kiste rutscht und dann losgelassen wird und fällt. Die Person war behänd und treffsicher. In kurzer Zeit war eine größere Zahl Flaschen untergebracht und der schnelle und beinahe rhythmische Vorgang brach jäh ab. Von meinem Bett aus sah ich, wie der Lichtschein wieder verschwand. Eine Tür klappte und es war so dunkel wie zuvor.

Nach diesem Erlebnis war ich mir nicht mehr sicher, ob die Tür die ganze Nacht offen stehen sollte, zumal sich die Raumtemperatur trotz dieser Maßnahme kaum änderte. Ich schaltete also das Licht an und verriegelte die Stahltür. Nach kurzer Zeit wurde es jedoch spürbar stickig in dem kleinen Zimmer. Also beschloss ich die Aircondition anzuschalten.

Es war eine große Kiste, die oberhalb meines Kopfes unter der Zimmerdecke hing. Ich wählte die Maximaleinstellung und der Kasten summte und ratterte los. Dann löschte ich das Licht. Das Zimmer war wieder dunkel wie ein geschlossener Karton. Ich lag auf dem Bett und hörte dem brummenden Aggregat zu, was tatsächlich auch kühle Luft ausblies. Unwillkürlich hörte ich mich in alle Nuancen dieser Geräuschmaschine ein. Es gab keine Möglichkeit wegzuhören und ich beobachtete die Geräusche und kommentierte jede Veränderung noch eine Weile in meiner Fantasie, bis ich einschlief.

Als ich wieder aufwachte, war mir kalt. Ich hatte vergessen mich zuzudecken. Es war jetzt merklich kühler im Zimmer. Ich tastete nach meinem Handy. Es war noch nicht spät, aber ich hatte das Bedürfnis schnell wieder zu schlafen, da ich sehr früh am Morgen abfliegen wollte.

Also stellte ich die Aircondition ab. Als ich im Dunkeln den Drehknopf betätigte, bemerkte ich, dass das Gerät nicht richtig an die Wand geschraubt worden war oder sich im Laufe der sicherlich langen Betriebszeit vielleicht locker gerüttelt haben mochte. Der Gedanke verfolgte mich, als ich wieder im Bett lag, und ich stellte mir vor, wie sich die Maschine irgendwann in der Nacht von der Wand löst und mir direkt auf den Kopf fällt. Je länger ich daran dachte, umso wahrscheinlicher erschien mir diese Möglichkeit. Schließlich wechselte ich in das andere Bett und schlief wieder ein.

Einige Zeit später, ich hatte das Gefühl mehrere Stunden geschlafen zu haben, weckte mich ein lauter Knall außerhalb meines Zimmers. Es war erst kurz vor Mitternacht. Andere Gäste hatten die Etage betreten und die Eingangstür zugeschlagen. Durch den Luftzug im Flur vibrierte auch die Tür meines Zimmers so stark, dass ich zuerst annahm, jemand hätte daran gerüttelt. Sie wackelte heftig im Türrahmen. Noch schlaftrunken hörte ich, wie sich die Leute unterhielten und an meinem Zimmer vorbei geräuschvoll den Flur entlang gingen und irgendeinen anderen Raum aufschlossen und dort eintraten.

Ich war jetzt hellwach, lag auf meinem Bett in diesem winzigen Raum und lauschte in die Dunkelheit. Was an meine Ohren drang, waren viele gleichzeitige Ereignisse. Ich wollte nichts hören und am liebsten alles ausblenden, weghören und weiterschlafen, aber meine Aufmerksamkeit hielt daran fest und konzentrierte sich auf jedes neue Detail. Ich fühlte mich wie gefangen in diesem Zwang die vielen für mich fremden und unbekannten akustischen Vorgänge wahrnehmen zu müssen. Die Außengeräusche waren jetzt bis auf die von der Straße fast verstummt, aber ich hörte jede Regung der anderen Gäste in diesem Gebäude. Ich kam mir vor wie ein Zuhörer und Insasse in einem durchlässigen Resonanzkörper. Überall in den Zimmern schien etwas zu passieren. Ich hörte die Spülungen der Toiletten, das dauernde Rauschen der Airconditions, Kindergeschrei, die Fernsehprogramme und das Klappen der Türen und jedes Öffnen und Schließen der Fenster. Manchmal waren da deutliche Stimmen von irgendwoher.

Das Hotel war wie eine große transparente Membran, die alle akustischen Ereignisse zu verstärken schien. Es war unmöglich mich zu entziehen und nicht zuzuhören. Jede Verlautbarung drängte sich auf und ich hörte hinein, immer wieder verloren sich meine Ohren in dieser überraschenden Vielfalt und in den unterschiedlichen Distanzen ihrer Verursachungen: Weiter weg, irgendwo am Ende des Flures, im unteren Stockwerk oder draußen und dann, urplötzlich und vollkommen unerwartet ganz nah, direkt hinter meinem Kopf. Ich war wie elektrisiert. Es war ein leises, schabendes Kratzen in der Wand. Und tatsächlich, es war wieder zu hören. Ich hatte keine Ahnung, was es verursacht haben mochte. Gespannt wartete ich, ob es noch einmal passieren würde. Ich legte mein Ohr ganz nah an die Wand und lauschte. In dieser Haltung verharrte ich einige Zeit, aber nichts passierte. Enttäuscht legte ich mich wieder auf mein Bett und ich versuchte an nichts mehr zu denken. Während sich langsam meine Müdigkeit zurückmeldete merkte ich, dass es still war. Mir fiel es erst jetzt auf. Ich hatte das plötzliche Verstummen überhört. Weder das eben noch akute Geräusch in der Wand noch irgendein anderes in der Nähe, auf dem Flur oder sonst wo im Gebäude, war zu hören.

Es war unheimlich und ich hatte in der Dunkelheit meines Zimmers eine augenblickliche Vision: Ich dachte, dass alle Geräusche für mich inszeniert wurden, aufgeführt in dieser Nacht und nur für meine Ohren, hier in diesem spanischen Hotel.

Um mich zu beruhigen, schaltete ich die Aircondition wieder an. Das sonore und kalkulierbare Geräusch klang wie ein Teil meiner  bekannten und bisher erfahrenen Welt. Ich fühlte mich erleichtert und schaute auf die Uhr meines Handys. Es war fast drei Uhr am Morgen und ich hatte noch eine Stunde, bevor ich aufstehen musste.

 

Norderheistedt, Oktober 2011

 
 
 
 
 
 

Klang als bewegte Form

(die runde Stahlscheibe)

 

Bei den Vorbereitungen während eines Installationsaufbaus einer Bodenskulptur mit kreisrunden Stahlblechen transportierten meine Aufbauhelfer und ich diese Elemente vertikal und wie große Räder rollend über den Boden. Irgendwann am Ende eines langen Tages verloren wir die Übersicht und wahrscheinlich auch die Vorsicht vor solchen Aktionen und eine dieser Scheiben mit einem Durchmesser von mindestens 2,5m entglitt unseren Händen in dieser vertikalen Position.

Einmal losgelassen begann die Scheibe im Umkippen eine eigenständige Bewegung, ganz anders als ein rechtwinkliger Gegenstand, wie ein Schrank, oder eine Türe die umfällt. Die Masse folgte der Erdanziehung nicht mit einer Bewegung, sondern in einem dynamischen rotierenden Bewegungsablauf, wie choreographiert in immer schneller werdenden auf und ab Bewegungen zum Boden hin. Dabei entwickelte sich schlagartig und im Impuls der immer schneller werdenden Rotation ein lauter und rapide ansteigender Stahlklang wie ein dynamischer schneller werdender Wirbel eines Trommlers auf dem Betonboden. Je näher der Metallkreis dabei dem Boden kam, umso schneller wurde die sich bewegende Fläche mit ihrem akut zunehmenden Resonanzklang. Die zu einem Höhepunkt strebende Bewegung der Form erreichte in ihrer Lautstärke fast vor dem Moment der platten Ruhelage ein enormes Crescendo, einen Zustand fast ohne sichtbaren Übergang, aber mit einem unglaublichen akustischen Getöse, abrupt in einen Moment der Stille, mit einem nachklingenden Augenblick der ganzflächigen Berührung, wie ein kurzes Seufzen des Materials. Der Raumhall des Museums reagierte auf das Ereignis in mehrfacher Wiederholung. 

Berlin, Februar 2000

 
 
 
 
 
 

 Die Überlistung der Sperre

 

Das italienische Dorf in Ligurien besteht aus einer Durchgangsstraße und einem kleinen Platz, an dem jeder vorbei kommt. Hier, in der Nähe der Kirche, befinden sich alle Läden, eine Bar und Restaurants, die ihre Tische und Stühle draußen vor den Häusern stehen haben. An warmen Sommerabenden ist es hier besonders einladend. Dann sind alle da, essen und trinken und beleben vielfältig diese kleine Straße.

Um sich des leidigen Problems parkender PKWs zu entledigen, haben die Bewohner seit einigen Jahren eine für diese ländliche Region äußerst innovative Lösung gefunden und in eine wirklich originelle Maßnahme investiert. Es handelt sich um eine vollautomatische Straßensperre, die Punkt 17:00 Uhr von rechts nach links über die gesamte Fahrbahnbreite einen massiven Stahlträger ausfährt und den Bereich der Lokale absperrt um den störenden Straßenverkehr auszuschließen. Die Planungsidee scheint genial, da in den Zeiten, wenn dieses Stück Strasse besonders frequentiert wird, gegen Abend bis in die Nacht, kein lästiger Autoverkehr in diesem engen Bereich mehr existiert.

Leider kommt es aber vor, dass das Verkehrsschild, was auf diese temporäre Sperrung hinweist, übersehen wird, weil es tagsüber vom Lieferverkehr zugeparkt wird oder weil es einfach nicht groß genug bemessen und übersehen wurde. Dann stehen dort in der kleinen Strasse geparkte Automobile, über den Tag abgestellt, ohne dass die Eigentümer ahnen, dass um 17:00 Uhr die Straße gesperrt wird mit einem unüberwindlichen Stahlträger für die nächsten zwölf Stunden. Wer um 17:05 Uhr mit seinem Fahrzeug seine Reise fortsetzen möchte, hat dann ein Problem.

Wahrscheinlich ist es eine im Sommer immer wiederkehrende Situation, wenn die Überraschung von Ortsfremden in baldige Frustration umschlägt, wenn es völlig unklar bleibt, wie man mit seinem PKW dieser Falle doch noch entgehen könnte ohne sich ein Hotelzimmer für die  Nacht suchen zu müssen. Leider reagiert die Polizei in keiner Weise; am Ort ist keine Station und es gibt auch sonst niemanden, der einen Schlüssel oder einen Zahlencode besäße. Die Sperre allerdings macht eine Ausnahme: sie reagiert nämlich automatisch auf die Frequenz der Ambulanz- und Polizeisirene für den Notfall, um über einen akustischen Sensor eine Deaktivierung des Mechanismus einzuleiten und den Stahlträger einzufahren. Die Anwohner kennen das schon, wenn die Hilflosen beliebige Leute in den Läden oder auf der Straße ansprechen und fragen, wie dass denn sein kann und wie man da wieder weg käme. Trotz der immer wiederkehrenden Situation, die vielen mittlerweile sicherlich lästig geworden ist, sind die Menschen hier sehr hilfsbereit und extrem einfallsreich.

Der Wirt der Bar hilft immer. Er kennt die Möglichkeiten. Es muss nämlich entweder eine Vespa Primavera 125 sein oder eine Honda Hornet, aber oft haben seine Freunde, die diese Motorroller fahren, keine Zeit oder sind gerade nicht in der Nähe. Dann geht jemand in den Keller und holt seine Kettensäge: „MotorSäga von Stihl funktioniert immer!“, sagt er und geht damit zur Sperre, zieht zweidreimal am Zugband des Anlassers, bis der Motor anspringt, um dann direkt vor der Schrankenverkleidung die Motorsäge aufheulen zu lassen, immer wieder in kurzen und längeren Intervallen, bis die Frequenz und Lautstärke stimmt.

Plötzlich ein Warnton und die Sperre bewegt sich. Langsam verschwindet der Stahlträger in seiner Vorrichtung. Die Straße ist frei.

 

Dolcedo, Juli 2015

 
 
 
 
 
 

 Die Wiener Sprachwolke

 

Nachdem ich kurz zuvor die Straße überquerte, stehe ich plötzlich und unmittelbar in einer Menschenmenge. Gerade ist das Ende einer abendlichen Filmvorführung unter freiem Himmel, hier im Park vor dem Rathaus von Wien zu Ende gegangen und alle wenden sich jetzt den vielen Ständen mit Getränken und kulinarischen Genüssen zu. Die Menschen stehen sehr eng beieinander. Es sind sehr viele auf engem Raum und alle reden miteinander. Noch ein paar Schritte und ich dringe ein in eine akustische Sprachwolke: Überlagerungen von Wortfetzen, Gelächter und halben Sätzen. Die Enge ist so extrem, dass ich mich sehr nah an den Worten und hörbaren Gesten der Anderen vorbeibewege. Ich komme kaum vorwärts, werde eingeklemmt, weitergeschoben, bis sich eine nächste Lücke ergibt. Manchmal verstehe ich ganze Sätze, meistens aber nur Fragmente. Die Worte sind ganz nah an meinem Ohr und es ist so, als ob es alle Worte an diesem Ort wären, alle Worte und gleichzeitig; die, direkt neben mir und die, ein Stück weit weg und die Summe aller Worte eines Augenblicks an diesem Ort. Eine wunderbare und undurchdringliche Dichte menschlicher Verlautbarungen, wie ein Teppich, der sich zu einem Hörraum aus Sprache und Kommunikation in die Höhe stülpt. Hinter mir, vor mir und um mich herum in jeder Richtung existiert dieses Dichte, diese pausenlose Vielfalt der Addition. Ein unvergleichlicher Zustand entsteht beim Hinübergleiten in dieses Hörphänomen fernab jeglicher inhaltlicher Haltegriffe. Permanent hallen die konkreten Worte in einer Wolke von sprachlichem Getöse nach. Aus einiger Entfernung, wenn der direkte Kontakt zur Verständlichkeit sich verflüchtigt, wird der gesamte Platz mit allen Menschen zu einer großen auditiven Bewegung im Raum der Stadt, weit weg vom Akut der eben noch nahen Einflüsterung beim Versuch der Durchquerung.

Wien, August 2004

 
 
 
 
 
 

 Ein Beginn von Klangkunst

 

Am Ende meines Studiums experimentierte ich mit automatistischen Skripturen. Was mich wahrscheinlich interessierte, war nicht in erster Linie die Bildproduktion sondern die bei diesen Bewegungs- und Schreibvorgängen entstehenden Geräusche, aber das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Schreiben meint hier einen Vorgang der Motorik, ausgeführt mit Hand und Arm nicht mit dem gesamten Körper. Ich experimentierte mit verschiedenen Rhythmisierungen, unterschiedlichen Trägermaterialien und diversen Kreiden. Ich ergänzte die Resonanzfähigkeit eines Papierbogens durch die Beschaffenheit seiner Unterkonstruktion, von der einfachen Tischplatte bis zu speziellen Resonanzverstärkern. Später dann erweiterte ich diese Vorgehensweise im Sinne der Frottagetechnik, beispielsweise auf Formen des orchestralen Schlagwerkes und vielen Varianten von Perkussionsinstrumenten. Es entstanden audio-visuelle Zeichnungen, wobei die Beobachtung der Bildentstehung nie außer Acht gelassen wurde. Mit dem nächsten Schritt, einer Übertragung dieses Verfahrens auf konkrete Räume und architektonische Situationen wie Wände und Böden, entwickelte ich einen installativen, zeichnerischen Zugriff, der die zum Teil verborgenen Geräusche eines Raumes  hör- und sichtbar machte. Ich entdeckte zum Beispiel Hohlstellen unter dem Putz, die bei einem Abklopfen ganz unterschiedlich in der Tonhöhe und Klangfarbe waren. Diese Vorgänge geschahen entweder coram publicum als Performance, bei der die Entstehung transparent wurde (ich habe diese Ereignisse damals schon Konzert genannt), oder als installatives Ergebnis im Sinne gestalteter Räume für ein Ausstellungsprojekt. Das Arbeiten mit Klang im Kontext eines konkreten architektonischen Bezugs war für mich der erste bewusste experimentelle Versuch im Umgang mit Resonanzphänomenen von Räumen. Diese Erkenntnisse über den körperlichen Selbstklang der Dinge bewirkte einen völlig neuen Zugang zu dem, was bis dato meinem Musikverständnis entsprach: nunmehr waren nicht nur die Instrumente Ausgangspunkt von Bespielbarkeit, sondern alles was klingt. Eigenresonanzen, Feedbacks, die hörbare Anregbarkeit von Materialschwingungen und die eher offene Art der Selbststeuerung waren genau die Prozesse, die es ermöglichten, Klang in völlig anderen Zeitstrukturen zu denken. Durch diese Praxis der Klangerzeugung und Materialerforschung entstanden immer neue und überraschende Transformationen und die Vorstellung einer akustischen Plastizität, einer Art Körperlichkeit des Klangs, eines Klangs in einer vierdimensionalen Beschaffenheit als Erweiterung des Skulpturbegriffs durch die Zeit.

Berlin, Dezember 1998

 
 
 
 
 
 

 Hier und dort bei Nacht

 

Ich öffne das Fenster meines Zimmers. Unvermittelt dringt die Stadt hoch in den zweiundzwanzigsten Stock. Hier oben, über den Straßen bündeln sich die urbanen Geräusche zu einem großen und pulsierenden Gebilde. Irgendwie gibt es kein Zentrum der Schallausdehnung, es sind viele gleichzeitige Zentren, ohne bestimmte Richtungen und auch ohne Identifikation. Alle Geräusche kommen von unten, aus dieser einen Richtung, wie eine große akustische Wolke, die in die Höhe steigt. So jedenfalls höre ich die Stadt in meinem Zimmer. Ich liege auf dem Bett und höre zu, mein Fenster ist die Öffnung, wie bei einem Ohr, eine Öffnung zur Welt, von Innen nach Außen.

Irgendwo geht immer eine Sirene. Wie eine scheinbar lineare Bewegung im Raum nimmt die Lautstärke dabei ab oder schwillt an in der Tiefe des Raums. Körperlich völlig passiv und regungslos verfolgen meine Ohren jede Veränderung im Hörbild. Nach einer Weile erfahre ich die Anfangs fast konstant empfundenen Geräusche  als sich permanent verändernde akustische Elemente im Gefüge. Nur viel langsamer und es sind anscheinend aus vielen Geräuschen zusammengesetzte Impulse und Strömungen. Diese Zusammensetzung ist so diffus, dass sich neue und fremde Höreindrücke bilden. Die einzelnen Bestandteile, wenn man sie überhaupt heraushören kann, sind die aller urbanen Geräusche in der nächtlichen Absenkung, wenn die schrille Aggressivität der bei Tag existierenden Höreindrücke absinkt und diese spezielle nächtliche Transparenz im Hörbild der Geräusche einsetzt.

New York, Oktober 1992

 
 
 
 
 
 

 Klänge außerhalb

 

Als ich jung war lebte ich frei und ungebunden. Natürlich gab es die strukturellen Einschnitte der Schule die ich auch mit Interesse wahrnahm, aber viel wichtiger waren für mich andere Dinge. Beispielsweise verbrachte ich viel Zeit in der Natur und nicht nur am Tage, sondern auch nachts. Ich erinnere mich sehr genau an die unheimlichen Momente, alleine bei Dunkelheit und die über mich hereinbrechende Lautwahrnehmung in der Geräuschwelt des nächtlichen Waldes. Mit der Kenntnisnahme und einer wachsenden Fähigkeit des hinein Hörens erlebte ich schon als Kind die sich immer weiter entwickelnde Deutung des Dringlichen, bis hin zum Wissen. Im nächtlichen Wald existiert kein unerhörtes Phänomen, alles ist präsent, gegenwärtig und bedrängend. Im Gegensatz zum Hören bei Tage existiert in der Dunkelheit keinerlei optische Ablenkung. Sehr schnell und fortschreitend entwickelt sich die Befähigung von Feinheit und Deutung.

Im installativen künstlerischen Diskurs mit Klang begegnet mir diese frühe Erkenntnis des Hörens immer wieder. Gleich einer unausrottbaren Dramaturgie erhoffen sich die Regisseure der akustischen Rezeption immer mit demselben Trick eine augenblicklich einsetzende Konzentration auf das Unerhörte. Dieser lautet: Licht aus – Klang an! Simplifizierungen haben einen erstaunlich langen Atem und wiederholen sich besonders dort, wo sowieso mit spezifischen Erwartungshaltungen umgegangen wird. So sind Theater- und Musikbühnen anscheinend der ideale Ort mit dieser Technik eine sofort einsetzende fokussierte Wahrnehmung und zielgerichtete Konzentration zu erreichen, oder diese zumindest zu ritualisieren.

Im urbanen Geräuschumfeld der Stadt funktioniert diese vereinfachte Art der akustischen Rezeption nicht. Hier ist das Hören in Echtzeit wie ein Kaleidoskop von unerwarteten Zusammenhängen und augenblicklich sich verändernden Bedingungen. Laute und leise, nahe und ferne und sich immer anders einstellende akustische Perspektiven prägen den Hörvorgang und konkurrieren mit einer Fülle optischer Eindrücke. Wir befinden uns immer im Zentrum einer mehr oder weniger wandelbaren Dichte von Geräusch, je nachdem wo wir sind, manchmal nah am akustischen Ausnahmezustand. Meistens hören wir weg im Sinne eines Zuhörens. Findet unser Ohr in der meist überbordenden Gleichzeitigkeit allerdings einen interessanten Laut, so wird der gesamte Hörprozess unwillkürlich zu einem Zusammenhang von akustischen Ereignissen, einem Hinhören für einige Momente.

Karlsruhe, April 2015

 
 
 
 
 
 

Nicht Ryoân-Ji

 

Irgendwo sitze ich in einem der vielen Zen-Gärten. Mein Interesse gilt zwar zuallererst dem Ort, ich will ihn mir einfach anschauen, doch was ich finde ist eine Insel der Stille, mitten in Kyoto.

Ich sitze und ruhe mich aus und höre die Geräusche des Straßenverkehrs zur Mittagszeit. Niemand sonst hält sich hier auf. Ich befinde mich geografisch mitten in der Stadt, doch hier ist es menschenleer. Ich höre viele Varianten urbanen Geräusches, doch es ist auch merkwürdig still. Meine Selbstvergessenheit reicht nicht soweit, die Geräusche des Straßenverkehrs mit dem Rauschen des Meeres zu verwechseln, aber sonst entspricht meine Rezeption genau diesem Naturgeräusch. Die mehrspurigen Straßen sind anscheinend ein ganzes Stück entfernt, denn sie erreichen mein Ohr wie über eine lange Distanz. Es ist sehr angenehm diese sich dehnende und manchmal dominanter werdende Geräuschlinie aus der Entfernung zu hören. Wie eine Schwebung füllt das Geräusch den Garten, ein weither vorbeiziehender Klang, gleichzeitig in Bewegung und doch konstant, ein sich entfernender Vorgang, der aber zu jedem Zeitpunkt wie von einer Stelle ausgehend gehört werden kann.

Meine Augen wandern den Ort ab, bleiben aber nirgendwo hängen. Meine Ohren konzentrieren sich auf die Ausdehnung des Geräusches, immer wieder höre ich mich hinein in den letzten Rest von Lautstärke, wenn das Geräusch zum Stillstand zu kommen scheint. Dieser verlassene Zengarten,  eine Insel der Stille, mitten in der Stadt scheint am äußersten Rand einer akustischen Ausdehnung zu liegen, denke ich und mir kommt ein Teller in den Sinn, viele Teller, die sich transparent überlagern. An einem dieser Tellerränder befinden sich meine Ohren wohl gerade.

Kyoto, Oktober 1994  

 
 
 
 
 
 

 Sanjo-Street

 

Manchmal tauchen meine installierten Klänge einfach ab. Die tägliche Geräuschwolke trägt sie fort, umhüllt sie gleichsam, um sie zu integrieren und als Teil von sich selbst unhörbar zu machen. Doch plötzlich, wenige Momente später erscheinen sie wieder, füllen einen freien, durch die Zufälligkeit des Augenblicks bedingten Moment aus, einen Moment, den sie im Zusammenhang aller Hörereignisse plötzlich für sich selbst haben, wie freigestellt, ohne ein Vorher und Nachher, genau jetzt.

Dies sind für mich die interessantesten Momente, da dieser Vorgang völlig unerwartet passiert und sich die Ohren dann von einer Sekunde zur anderen weit öffnen. Dann ist das Hören ganz da, begierig darauf wartend ein ähnliches Erlebnis mit einem anderen akustischen Implantat an einer anderen Stelle der Straße erleben zu können.

Kyoto, September 1994

 
 
 
 
 
 

Eine andere Strategie ist das Weghören

 

Vor allem sind es die Geräusche, die mir einen neuen Blick auf das Bild eröffneten. Beispielsweise das Schreibgeräusch, oder das Schraffurgeräusch eines harten Wachsstiftes auf Papier, wenn sich die Aufmerksamkeit beim Tun plötzlich vom Visuellen ins Akustische verschiebt und die Hand sich selbst zu rhythmisieren scheint.

Wenn wir das Hinhören als kulturelle Praxis benennen, dann passiert dies im Regelfall an ausgewählten Orten mit einem entsprechenden Programmangebot. Hier wird Hören zu einer Musikalisierungspraxis unter bereinigten Bedingungen, alles ist abgestellt auf diese Form von Hörpraxis, die Akustik der Architektur, die sitzende Haltung, die Bühnenpräsenz der Handlung bis hin zur Wohltemperiertheit des Vortrages mit seinen ästhetischen Folgen für das gesellschaftliche Ritual.

Den Versuch des Hinhörens unter den Bedingungen eines von Ablenkungen gestörten Musikalisierungsverlangens zu unternehmen ist allerdings eine Herausforderung. Uns erwartet immer ein lauter Raum, wobei „laut sein“ genauso weitläufig interpretierbar bleibt wie „still sein“. Gemeint ist vielmehr die Konkurrenz vieler paralleler akustischer Ereignisse, die zum gleichzeitigen Hin- und Weghören zwingen, also permanente Entscheidungen fordern, wohin sich das Ohr bewusst im nächsten Moment orientiert. In der Vielfalt der wahrnehmbaren Dinge und audiovisuellen Angebote passiert Hören in der Gleichzeitigkeit. Simultanität bedeutet hier die bewusste Entscheidung zwischen einem Hin- und Weghören, sich beispielsweise in einen separierten Körperklang, oder einer Addition von akustischen Ereignissen in ihren zufälligen Erscheinungen hineinzuhören und diese wie ein Ensemble wahrzunehmen.

Eine andere Strategie ist das Weghören. Die akustischen Erscheinungen erreichen zwar als Schallwelle das Ohr, werden aber vom Bewusstsein sondiert, gefiltert und ausgeblendet. Als Konsequenz dieser Beobachtung scheint dann weghören dasselbe zu bedeuten wie nicht zuhören. Zum Glück verhält es sich aber ganz anders:

Das Motiv nicht zuzuhören als Hörtechnik entspricht vielmehr gleichzeitig alles zuzulassen was in diesem Moment hörbar ist. Sich auf etwas anderes zu konzentrieren, als auf Hörbares bedeutet dann, dass das aktuell akustisch Vorhandene ohne vom Bewusstsein bewertet existiert und gleichbedeutend nebeneinander erscheint. Erst in dieser Weise wird alles wirklich wahrnehmbar und ich höre Dinge, die sonst unerhört bleiben. Natürlich höre ich in diesem Zustand im Sinne der Kommunikation nicht mehr zu. Ich bin dann ganz bei mir selbst und höre weg, weit weg und ganz woanders hin und tief hinein.  

Diese besondere Disposition des gleichzeitigen Hören und Sehens verstehe ich als ein eigenständiges künstlerisches Forschungsfeld. Es entstehen Arbeiten, die sich exakt mit dem speziell Audiovisuellen beschäftigen.

Norderheistedt, Mai 2010

 
 
 
 
 
 

 Der fliegende Händler in der NYC Subway

 

Der alte Mann kam immer unerwartet in das U-Bahn Abteil, stellte sich in die Mitte des Waggons und begann mit seinem Job. Er verkaufte asiatische Mitbringsel die Sound machten. Seine kurzen Auftritte von einer Station zur Nächsten waren kleine Performances, in denen er den Gegenstand vorführte. Er griff in eine große Umhängetasche, zog ein Objekt heraus, demonstrierte es in Aktion und kommentierte seine Handlung am Ende mit der Bekanntgabe des Preises: One Fifty. Immer One Fifty. Durch den Einheitspreis überzeugte die Vielfalt der Angebote noch mehr, da ein qualitatives Herauslesen zwischen unterschiedlichen Preisen und Gegenständen nicht stattfand. Man konnte sich ganz unabgelenkt von solchen Preis-Leistungs-Vergleichen auf das Ritual der Vorführung konzentrieren und sich auf die überraschende Vielfalt der aus dem Sack gezauberten Gegenstände mit ihren Geräuschen einlassen.

Dabei entstand so etwas wie ein gesprochener Grundrhythmus und ein klanglich sehr überraschender Kontrast durch die klingenden Gegenstände. Er führte sie vor, relativ ambitionslos und nicht darauf aus sie solistisch zu bespielen. Diese augenscheinliche Distanz zu den Gegenständen und seine sonore und emotionslose Bekanntgabe des immer gleichen Preises machten die Vorführung zu etwas ganz Besonderem. Nach wenigen Augenblicken entstand etwas ungewöhnlich Anderes. Die akustischen Äußerungen seiner Gegenstände waren stellenweise ziemlich witzig und unvorhersehbar, d.h. die Geräusche waren der optischen Erscheinung nach nicht ablesbar, aber trotz dieses unterschwellig humoristischen Grundtons entstand ein großer Ernst in seiner Handlung, eine tiefe Poesie des Augenblicks. Zum Rattern der Fahrgeräusche und zum Quietschen der Bremsen in der New Yorker Subway ergab sich eine neue Synchronisation mit einem anderen Rhythmus jenseits des Alltäglichen und gleichzeitig mitten in dessen Zentrum.

New York, Oktober 1992

 
 
 
 
 
 

 Traum

 

In einer Kneipe treffe ich jemanden aus der Musikszene, irgendeinen Pianisten, keinen Freund, nur einen Bekannten. Einen, mit dem ich mal irgendwann was eingespielt habe. Im Gegensatz zu ihm habe ich mein Instrument, die Gitarre, eigentlich schon länger aufgegeben und mache alles Mögliche. Meine Gitarren habe ich bis auf eine Einzige längst verkauft. Im Augenblick bin ich ohne Job und leider auch ohne jede Idee, wie sich dieser Zustand ändern könnte. Davon weiß mein Gegenüber allerdings nichts und nach ein paar Getränken erzählt er mir von einer sehr gut bezahlten Nummer in einer extrem schrägen Umgebung. Er war ziemlich scharf darauf mir diesen Job zu beschreiben. Leider war ich schon einigermaßen betrunken und nicht mehr aufmerksam, aber dass die einen besonderen Act suchten, eine Art Artistennummer auf einem Musikinstrument und keine normalen Songs, bekam ich schon noch mit. Und dass die Gage enorm gewesen sein soll für das, was er abgeliefert hatte, blieb bei mir sofort hängen. Dann schrieb er mir den Kontakt, eine Telefonnummer, irgendwann später und nach einigem Hin und Her auf einen Bierdeckel.

Seit ungefähr fünf Jahren habe ich keine Gitarre mehr angefasst. Eigentlich bin ich wieder in dem Zustand, als ich anfing in Bands zu spielen. Ich habe genau noch eine Gitarre und einen Verstärker, so wie am Anfang. Und meine Spielpraxis strebt gegen Null. Dieser Austausch und diese Euphorie mit anderen gemeinsam Musik zu machen, hat für mich einfach irgendwann und aus irgendwelchen Gründen seinen Reiz verloren. Jetzt war da eine riesige Distanz und ein Publikum an meinen musikalischen Emotionen persönlich Teil haben zu lassen, fand ich plötzlich nur noch abwegig. Trotzdem rufe ich die Nummer an. Es meldet sich der Chefarzt eines Krankenhauses, denke ich, und ich stelle meine Fragen und wir verabreden uns kurzfristig.

Am nächsten Tag gehe ich dann da hin. Das Gebäude, was ich unter der angegebenen Adresse schnell finde, ist neu und irgendwas zwischen Hospital, Wohnresidenz und Laborkomplex. Der, mit dem ich verabredet bin, ist der Direktor dieser Institution und gleichzeitig ein Weisskittel, ein Arzt oder Wissenschaftler, oder beides.

Er ist außerordentlich erfreut über mein Erscheinen und offeriert mir ohne Umschweife eine Auftrittsmöglichkeit in seinem Laden. Auf meine Frage, was er sich denn genau vorstelle, beschreibt er etwa wie eine clowneske Unterhaltung, so etwas wie eine humorvolle Artistik auf dem Instrument, eben etwas total Überraschendes für die Ohren, jenseits von Melodie und Rhythmus und möglichst unkonventionell. Ich denke ihn ungefähr verstanden zu haben, frage aber nicht weiter nach, auch wegen des enormen Honorars für einen zeitlich überschaubaren Auftritt. Wir werden uns schnell einig. Ich erfahre den Tag der Show, wir verabschieden uns und ich verlasse diesen Ort.

Zu Hause bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich die ganze Sache überhaupt nicht lieber wieder rückgängig machen sollte, da ich mir völlig unsicher bin, ob ich etwas auf die Reihe bekomme. Ich hatte eine extrem lange Pause und habe in dieser Zeit überhaupt keine Gitarre mehr angerührt. Ich muss mir dringend auf die Schnelle etwas einfallen lassen. Zum Glück ging es nicht um Virtuosität im Sinne einer musikalischen Aufführung, sondern um ein eher experimentelles Klangereignis auf einer Gitarre. Das bedeutet nicht weniger an Intensität im musikalischen Ausdruck, aber viel mehr an individueller Freiheit. Da würde mir sicher schon etwas einfallen.

Als der Tag da war, ging ich wieder dort hin, mitsamt meinem Equipment. Mein Aufbau war schnell gemacht und ich spielte dann auf einer kleinen Bühne in einem Raum für ungefähr 150 Zuhörer.

Es war das außergewöhnlichste Konzert, was ich jemals gemacht habe. Die Zuhörer, die allesamt auf Vehikeln in den Saal geschoben wurden, deren Konstruktion ich noch nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte, waren irgendwie keine Menschen. Manche hatten zwar einen Kopf und auch Arme, da wo Menschen diese haben, aber die allermeisten waren irgendwie eine Körpermasse mit Augen und Ohren. Einige waren weniger deformiert, so dass sie noch an eine menschliche Anatomie erinnerten, andere sahen aus wie Körper aus Biomasse  mit Sinnesorganen und merkwürdigen Extremitäten oder diese fehlten ganz. Die beweglichen Konstruktionen auf kleinen Rollen, die wie Stühle oder Sitze funktionierten, dienten dazu die Körper stabil zu halten, um sie in einer Position zu fixieren.

Dicht an dicht schoben die Helfer meine Zuhörer vor die Bühne, bis der Raum voll besetzt war. Kein Laut ging von ihnen aus, sie waren einfach nur anwesend. Dann begann ich mit meiner Nummer. Schnell hatte ich die nötige Konzentration für meinen musikalischen Ablauf. Ich führte mein Instrument vor und was man so alles mit einer elektrischen Gitarre machen kann, spieltechnisch zwischen Klang und Geräusch, mit und ohne Hilfsmittel wie Steine oder Sand oder den Materialien, mit denen ich sonst schon immer gearbeitet habe.

Ich hatte einen ganz guten Flow trotz meiner fehlenden Routine und war so in der Sache, dass ich das Umfeld beinahe vergaß. Der inneren Logik des Vortrags gehorchend, kam ich dann irgendwann zu einem Ende. Als der letzte Ton verklungen war, wurde es wieder still, bis nach einer gefühlten Ewigkeit ein leises Schnarren einsetzte und mein Publikum immer lauter merkwürdige geräuschvolle Laute von sich gab. Es waren fremdartige Lebensgeräusche ähnlich einem Hecheln, Zischen oder Schmatzen, und die Körper bewegten sich dabei kaum, aber die Geräuschkulisse schwoll unentwegt an, um dann plötzlich und unvermittelt abzubrechen. Kurz danach begannen die Helfer mit routiniertem Überblick mein Publikum aus dem Saal zu schieben. Wenig später war ich wieder alleine, bis der Direktor auftauchte und mich in sein Büro bat um die Formalitäten, wie er es nannte, zu erledigen.

Er begann mit der Frage, ob mich das Erlebte schockiert hätte. Ich wusste nicht genau darauf zu antworten, weil ich so etwas noch nie gehört, gesehen oder mir überhaupt irgendwie vorstellen konnte und wollte wissen, was er genau mit seiner Frage meinte. Er erklärte mir daraufhin, weshalb meine Gage so hoch sei. Es ist neben dem Honorar für den Auftritt eben auch eine Art Schmerzensgeld für den Anblick und die Alpträume, die mich noch einige Zeit heimsuchen werden. Da wird es mir genau so ergehen wie all den anderen vor mir. Noch bevor ich ihn fragen konnte, kam er mir zuvor und sprach von den Wesen, die mein Publikum waren. Er beschrieb sie als ein leider immer noch vorkommendes fehlerhaftes Ergebnis seiner Forschungen. Trotz des gesetzlichen Rahmens, einem offiziellen Verbot mit dem Erbgut zu experimentieren und entstandenes Leben unbedingt zu schützen, egal in welchem Stadium der Entwicklung, forsche er und seine Mitarbeiter in jedweder Form am Erbgut des Menschen und anderen Geschöpfen. Seine Labore seien ein seit Jahren ausschließlich vom Staat finanziertes Forschungsprojekt, das trotz des gesellschaftlichen Votums per Gesetz das Leben zu schützen und das Erbgut unangetastet zu lassen, geheim und im Stillen betrieben wurde. Leider müsse er so auch seine Misserfolge wie Menschen behandeln und könne sie nicht einfach als Fehlversuche entsorgen. Er bat mich dann vor der Auszahlung meines Honorars kurz den Vertrag und die Schweigeerklärung zu unterschreiben und auch den Anhang zu lesen. Ich bekam keine Kopie.

Cape Cod, August 2019

 
 
 
 
 
 

Von der Schwierigkeit des Dokumentierens

 

Grundsätzlich gilt, dass die Wirklichkeit –oder dass was wir dafür halten- nicht nachstellbar ist. Wie oft erlebe ich bei einer begeisterten Rekapitulierung eines mitreißenden Eindrucks, dass eine andere Stimme dasselbe als wenig erinnerungs-prägend einstuft, so als ob beide bei einer unterschiedlichen Veranstaltung waren oder abweichende Dinge sahen oder hörten. Ähnlich verhält es sich mit dem Anspruch und der Erwartung an eine umfassende  Wahrheit, oder besser an den Wahrheitsverlust des erinnerten Gegenstandes.

Bei dem Versuch einer medialen Übersetzung des Originals entsteht dieser Verlust zwingend, da der originäre Anlass sich als unwiederholbarer Moment der Wahrnehmung darstellt und sich zu einem Sinneseindruck zusammensetzt, der aus einer nicht zu beziffernden Menge von Details, Beobachtungen und Wertungen besteht. Selbst bei einer als Gegenstand unveränderlichen Sache, einem Gemälde beispielsweise, sehen wir unserer momentanen Stimmungslage und Verfassung entsprechend immer wieder anders, ohne dass sich der Betrachtungsgegenstand ändert.

Diesen Sinneseindruck zu kompensieren obliegt dann unserer Befähigung das neue Medium lesen zu können, d.h. die systemisch immanenten Undarstellbarkeiten zu erkennen und auszudeuten. Der Umgang mit diesen Surrogaten ist alltäglich und erfährt i.d.R. keine besondere Beachtung. Ein maßgeblicher Mangel erscheint allerdings im ästhetischen Kontext, also in der sinnlichen Wiedergabe als Abbild oder als akustische Reproduktion.

Der Maler beklagt in diesem Zusammenhang die Unmöglichkeit sich die Wirkung seines wandgroßen Gemäldes bei der Betrachtung einer Abbildung dieses Werkes in einem Katalog vorstellen zu können. Noch abstrakter erscheint die fotografische Darstellung des komplexen dreidimensionalen Gegenstandes einer Skulptur oder Plastik im Raum. Interessanterweise kennen wir die meisten Kunstwerke durch Abbildungen, und wir erahnen, dass die medial vermittelte Realität in Büchern und Magazinen erst durch die Befähigung, diese Abbildungen lesen zu können, ihren Informationsgehalt  preisgeben. In diesem Sinne gibt es natürlich auch bessere und schlechtere Fotografien, die sich gerade auch auf die Ausdeutung räumlicher Aspekte befragen lassen. Das heißt, es gibt Abbildungen, oder besser, es gibt festgehaltene Blicke, die schon selbst interpretierte Sichtweisen darstellen. So ist die ästhetisierte Warenwelt sicherlich das größte Experimentierfeld für dramaturgische Bildwirkungen im Sinne vielfältig optimierter  Verkaufsstrategien. Auch ist die von Roland Barthes beschriebene Referenz der Fotografie, zusammengesetzt aus Realität und Vergangenheit und der Annahme, dass die Sache dagewesen ist, nur ein Teilaspekt des Wissens um die Dekodierung von Bildwirkungen, der Bearbeitbarkeit von digitalen Bildwelten und der Befähigung des Herauslesens von Informationen nach einem beinahe zweihundertjährigen Umgang mit diesem Medium. Doch was sehen wir eigentlich? Oder um die Problematik gleich auf die Reproduktion audio-visueller Prozesse, bzw. auf das reine Hören zu erweitern: Was hören wir eigentlich?

Kunstformen, die sich durch visuelle und akustische Praktiken kennzeichnen lassen, wie beispielsweise eine ortsbezogene Klanginstallation oder kinetische Klangobjekte mit sich wiederholenden Loop-Strukturen oder vom Zufall abhängige Interaktionsabläufe, werden in ihrer dokumentarischen Nachbereitung meistens als Video mit Ton abgefilmt, um dann als Arbeitsbeispiel eine Künstlerhomepage zu bereichern.

Diese weitverbreitete Praxis veranschaulicht einerseits die selbstverständliche Nutzung und Verwertung digitaler Speicherverfahren besonders für Zeit basierte künstlerische Ausdrucksformen, zeigt aber auch andererseits den hilflosen Umgang mit dem medialen Verlust. Wer einmal die Gelegenheit hatte, eine Klangarbeit im öffentlichen Raum, in der Natur oder als architekturspezifische Intervention vor Ort zu erleben, kennt diese Erfahrung der Fülle von einmaligen Augenblicken und Hörmomenten, der Kurzlebigkeit einer besonderen Wahrnehmung von Klängen/Bildern und die Abhängigkeit solcher Ereignisse von einer Unzahl beeinflussender, gleichzeitiger anderer Faktoren. Das, was sich als Eindruck vermittelt und verfestigt, entspricht dann eher einem dynamischen Erlebnisgehalt und einer besonderen Konzentration auf sehr schnell vorbeiziehende Beobachtungen als einer statischen Abfolge von Anlässen. Die Herausforderungen an die sich einstellenden sinnlichen Eindrücke bleiben unübertragbar, das menschliche Ohr hört anders als ein Mikrofon, und das menschliche Auge sieht anders als eine Kameralinse.

Manchmal entstehen allerdings dokumentarische Momente in Bildern oder Klängen, die dem eigenen Erleben sehr nahe kommen, beispielsweise durch Fotografien, in denen ein erinnertes Erlebnis auf eine besondere Weise kulminiert und eingefangen wurde oder durch eine Tonaufnahme, die in ihrer Authentizität so real zu sein scheint, dass die Hörer sich augenblicklich in eine andere Zeit oder an einen anderen Ort versetzt fühlen. Aber diese Beispiele bleiben Ausnahmen vor der grundsätzlichen Frage der Abbildbarkeit einer Kunstform, bei der die rezeptiven Bedingungen zu einem wichtigen Aspekt des künstlerischen Konzeptes werden. Das Bewegtbilddokument verhält sich dann so zur Realität wie ein beliebiger Bildausschnitt einer Rahmenhandlung, bei der die Requisiten erkennbar bleiben, deren inhaltlicher Zusammenhang aber unkenntlich wird oder zu etwas gänzlich Neuem mutiert. Am Dokumentationsversuch eines Abluftschachtes von Heiko Wommelsdorf  lässt sich die Besonderheit  des Problems exemplarisch darstellen:

In der Montagehalle, einem Ausstellungsraum der HBK Braunschweig mit enormer Größe und Deckenhöhe, befindet sich über Kopf, in einer Höhe von vier Metern, ein von ihm in die Wandverkleidung eingebauter Abluftschacht als Beitrag für eine Ausstellung. Dieses Aggregat entspricht genau dem Angebot handelsüblicher Lüftungstechnik, wie sie in Nasszellen und Bädern vorkommt. Nur der Anlass einer Ausstellung und  die Verwechslungsgefahr mit einem Bild, was allem Anschein nach aus der präsentierten Hängehöhe der Nachbarpositionen herausgesprungen zu sein scheint, legt nahe, dass es sich um eine künstlerische Strategie handelt. Was sollte auch sonst ein Gegenstand dieser Art an dieser Stelle? Hin und wieder bewegt sich das Frontgitter, angeregt durch einen ventilierten Windzug und produziert dabei dezent klappernde Geräusche. Der Gegenstand erfüllt somit alle Eigenschaften, die der Alltagswahrnehmung an anderen Orten und Verwendungen  von einem solchen Aggregat entsprechen, um dort in der Regel aber übersehen oder überhört zu werden. Hier nun entsteht das genaue Gegenteil und mehr noch: Nicht nur die Präsentation des Objektes in dieser exponierten Weise transponiert es in seiner Funktion und Neuerfindung zum Wahrnehmungsanlass der besonderen Art, sondern es entsteht eine außergewöhnliche Konstellation von Ereignissen, die diesen Abluftschacht zum Ausgangspunkt für ein selten intensives Hörerlebnis machen.

Der aktive Ventilator hinter der Gitterverblendung produziert nicht nur eine Windbewegung und ein zufälliges Klappergeräusch, sondern ebenfalls ein permanentes Resonanzbrummen der gesamten Wandverkleidung. Erst jetzt wird die ungewöhnliche Platzierung auf der großen Fläche sinnfällig. Hier an dieser Stelle der Trockenbaukonstruktion befindet sich allem Anschein nach ein Übertragungspunkt, der die gesamte Wand in Schwingung versetzt und einen Klang entstehen lässt, der von seiner Ausdehnung und seinem Volumen in keinem Verhältnis zur Verursachung zu stehen scheint. Interessanterweise verharrt das akustische Ereignis aber in einer schlüssigen Beziehung zum optischen Gegenstand. Der in der Proportion zur gesamten Wandausdehnung kleine Abluftschacht bleibt der optische Verursachungspunkt von dem alles auszugehen scheint, obwohl er in einem geradezu surrealen Größenverhältnis zur akustischen Ausdehnung wahrgenommen wird. Zusätzlich erfährt die Situation eine besondere Dramaturgie, indem das Lautstärkeverhältnis zur Größe des Raums als eher leise und in Permanenz existiert und damit schnell von der Geräuschkulisse der miteinander sprechenden Besucher überlagert wird. Nur manchmal scheint es auf und wird dann plötzlich in der räumlichen Entfaltung seines Zusammenhangs eine extrem intensive audiovisuelle Herausforderung für die Sinne.

Eine solche künstlerische Aussage in ihrem gesamten Erfahrungsgehalt dokumentieren zu wollen, erscheint unmöglich. Das, was beispielsweise eine Bewegtbildabfolge als Video einfangen kann, wäre ohne Kommentierung nicht einmal im Ansatz eine tragfähige Information zum Ort und seiner spezifischen Situation. Eine selektive Tonaufnahme ist möglicherweise hilfreich, um eine Vorstellung von einer Raumgröße zu ermöglichen (entstehen zu lassen), aber schon die Differenzierung des Resonanzklanges der Wand zu seiner räumlichen Ausdehnung und Verbreitung als Raumklang zeigt hier die Grenzen der akustischen Darstellbarkeit auf. Sicherlich sind in diesen Grauzonen der Dokumentierbarkeit andere Strategien sinnvoller. Vielleicht ist es dabei hilfreich, sich nicht auf die scheinbare und unter anderen Umständen überlegende Handlungsnähe des Bewegtbildmediums zu verlassen, sondern das Prinzip des realen Abbildens zu Gunsten eines assoziativen Ansatzes aufzugeben. Dieser könnte beispielsweise darin bestehen, eher die Vorstellungskraft der Dokumentationsnutzer anzuregen, als mit tatsächlichen Versatzstücken einer medialen Hier- und- Jetzt– Wirklichkeit zu operieren. Damit entstehen natürlich zum herkömmlichen Verständnis scheinbare Ungenauigkeiten. Aber ist es nicht wesentlich intensiver und auch aufschlussreicher für jeden  Leser eines Textes und Betrachter von Fotografien eine eigene Idee der Wirkungszusammenhänge zu assoziieren? Dann wird aus der Beschreibung eines vibrierenden Abluftschachtes die individuelle Befragung eines angeregten Erinnerns aller im Gedächtnis ähnlichen Hörphänomene und sicherlich befinden sich einige ganz in der Nähe dieser Resonanz.

Norderheistedt, Mai 2013

 

 
 
 
 
 
 

 Versuch über Pappeln

 

Ich liebe Pappeln. Pappeln rauschen  laut. Pappeln übertreiben bei der Wiedergabe des Windes. Sie sind mit Abstand die geräuschvollsten Bäume. Deshalb fanden sie immer meine uneingeschränkte Bewunderung als akustische Blattbewegungsverstärker. Diese Imagination von einem Klangraum, einer akustischen Ausdehnung von vielen einzelnen Klängen und der Vorstellung von etwas aus der menschlichen Größenperspektive extrem Großem. Die größten Pappeln die ich jemals gesehen habe (und ich bin ihnen nachgereist) befinden sich am Niederrhein. Riesige Bäume so hoch wie Kirchen und unglaublich weit hörbar.

Die Ausdehnung eines Windzuges, immateriell und unsichtbar wird sehr geräuschvoll wahrnehmbar. Und genau so habe ich mich dem Phänomen dieser Bäume genähert. Das Rauschen der Blätter als Abbildung von Wind und Bewegung, stärker oder schwächer und zusammengesetzt aus einer unendlichen anmutenden Zahl einzelner Geräusche, als einer Summierung und Vielstimmigkeit von tausenden sich bewegenden Blättern an einem Baum und als dessen von der Luftbewegung getragenem Hörfeld. Im Moment der Musikalisierung eröffnet sich die Möglichkeit des Hinneinhörens in das sich andauernd verändernde Geräusch, niemals statisch, immer in stetiger Modulation. Es ist wie ein Eindringen in einen Raum aus vielen Einzelgeräuschen und deren Präsenz als Wolke, die sich selbständig immer weiter trägt in ihrer akustischen Addition.

Norderheistedt, Mai 2011

 
 
 
 
 
 

Von Zäunen und Vögeln und anderen Hörerscheinungen

 

Die plötzliche Aufdringlichkeit des Geräuschs wich und wandelte sich zu einem unerwarteten Hörerlebnis.

Ich dachte, es läge an irgendeinem äußeren Umstand, der diese Veränderung ausgelöst haben mochte. Doch der Zaun wurde immer noch repariert. Jemand begann von neuem weit weg Latten zusammenzunageln. Und der Vogel vor meinem Fenster gab weiterhin Laute von sich, kehlige, voluminöse, kurze Laute.

Allem Anschein nach setzte sich etwas in meinem Kopf fest. War es die kurzfristige Übereinkunft neben allen anderen Verlautbarungen, als ob dem Ganzen eine geheime Partitur zugrunde läge, oder vielleicht die wie füreinander bestimmten Klangfarben?

Dann dachte ich, es müsse die Distanz sein, die meine Ohren dermaßen auf den Weg brachten. Ich konzentrierte mich auf die Entfernungen, ganz nah, weit weg, irgendwo dazwischen:

Fernes trockenes Klicken eines Hammers auf Nagelköpfen und die Stimme des Tieres, sehr nah, fast ohne Abstand. Im Augenblick der Gleichzeitigkeit wurde ich hellwach. Ich hörte zu. Die Pausen wurden von meiner Erwartung auf das nächste Geräusch hin gefüllt. Sofort entworfene rhythmische Muster lösten sich schon bei ihrer Entstehung wieder auf. Es gab keine Struktur. Ich hörte in die Pausen hinein, wie in die Zeit selbst.

Berlin, Oktober 1994

 
 
 
 
 
 

Über Wind

 

Mit enormer Geschwindigkeit über die Stadt und die Dächer der Häuser, zwischen die Gebäude, hinein in die Straßen und in die kleinsten Winkel. Jeder Mauervorsprung, jeder Zwischenraum, alles was das entfesselte Stürmen des Windes beeinflusst wird hörbar. Ein enormes Brummen, Heulen und Vibrieren erfüllt die sich bewegende Luft, wird herangetragen, weitergeleitet und immer wieder verändert. Jede Dachziegel, jedes Fallrohr, jedes geparkte Auto (manchmal hüpfen sie am Straßenrand kurz hoch), jeder irgendwie geartete Körper resoniert, trägt seinen individuellen Klang bei zu diesem Brausen, dessen singende Obertöne von der improvisiert anmutenden Elektrifizierung der Stadt, diesem Wirrwarr aus freihängenden Leitungen herrühren, diesem Gesang, im Frequenzspektrum weit über den tiefen Resonanzen der urbanen Zwischenräume. Fasziniert von der unbeschreiblichen Rasanz der Ereignisse verlieren sich meine Ohren in diesem gigantischen Konzert.

(Der Taifun verlief glimpflich. In der Stadt Kyoto entstanden keine nennenswerten Schäden)

 Kyoto, Oktober 1994

 
 
 
 
 
 

 Neu Hören

 

Die unvermittelt einsetzende Komplexität, die entsteht, wenn ich nur den Geräuschen meiner täglichen Umgebung, also solchen die ich zu kennen glaube, zuhöre und zwar nicht erwartungsvoll auf etwas Kommendes hin, sondern in zufälliger Teilhabe an einem Geschehen unterscheidet die Beanspruchung meiner Sinne gravierend von der normalen Hörkultur, beispielsweise der Hörpraxis in einem Konzertsaal.

Mein künstlerisches Interesse, dass mit der Beobachtung und Wahrnehmung von ephemeren akustischen Zuständen umgeht, auch solchen an denen wir meistens vorbeihören, weil sie scheinbar banal und alltäglich sind, hat einen ganzen Kosmos von neuen und für mich unbekannten Verästelungen meiner Realität hervorgebracht, die ich ohne diese Entdeckung nie erkannt hätte.

Es geht dabei nicht darum eine nächste Klanginstallation zu konzipieren, sondern einen Einblick zu gewähren in eine Art von Zusammenhängen, die mir die Welt neu erklären. Hier liegt der unbeschreibliche Reiz einer unerwarteten Transparenz, die sich auch  ganz anders ausdrücken kann: zu zeichnen, eine poetische Situation zu erleben oder einen Text zu verfassen.

März, 2020

 
 
 
 
 
 

 Audiovisuell

 

Wir haben Ohren für alles und hören im physikalischen Sinne ohne Unterscheidung. Schwankungen des Luftdrucks schallen an unser Hörorgan und reizen mechanisch unsere sensiblen Nervenspitzen. Diese Permanenz der Aktivität reicht weit in jegliche Art von Raum und seiner Ausdeutung, immer verbunden mit der Suche nach dem bisher Unerhörten. Die ungeheure Komplexität dieses Vorgangs unserer akustischen Wahrnehmung passiert als elektrischer Impuls, als Energieimpuls in der Umwandlung dieses mechanischen Reizes. Die unterschiedlichsten Höreindrücke, die gleichzeitig an unsere Ohren dringen synchronisiert das Gehirn durch Gammawellen. So wird durch unsere Ohren, beidseitig am Kopf und die daraus resultierende minimale zeitliche Verzögerung, beispielsweise die Richtungsbestimmung des Gehörten möglich. Hier in der Hörrinde passiert unablässig und solange wir leben ein augenblicklicher Vorgang der Analyse, ein Bewerten und Sortieren, ein Erinnern und Verwerfen. Dieser andauernde Reiz einer hörbaren Gegenwart, der schon vor unserer Geburt einsetzt, komplettiert sich mit Erfahrungen und Emotionen aller anderen Sinneseindrücke zu einem in der Welt sein und einer aktiven Teilnahme und angeblich noch als letzter Wahrnehmungsimpuls in unserem scheidenden Leben.

Wir leben als Stadtmenschen in einem überbordenden Kontext von Geräusch und Krach, sehnen uns nach Stille und Verminderung der akustischen Bedrängung und hoffen auf ausgrenzende Maßnahmen der Reduktion, wie von der Schallschutzmauer,  dem Flüsterasphalt und der Dreifachverglasung von Fensterscheiben bis zum Verbot von Laubgebläsen. Leider scheinen wir aber gefangen in den Innovationen und Neuerungen für ein zukünftig immer besser werdendes Leben im Fortschritt, in dessen Verlauf sich eine Reihe gravierender Fehlentwicklungen im akustischen Alltag eingestellt haben.

Der mit Klang arbeitende Künstler proklamiert in diesem Zusammenhang  neue Klangräume oder ein anderes Hören. Dies bedeutet hier so etwas wie neu gehört oder anders gehört oder überhaupt erst gehört. Herauszustellen sind künstlerische Strategien und deren Anwendung im urbanen Stadtraum als eine Möglichkeit des Überlebens für rezeptive Wesen in einer von Lärm überfluteten Gegenwart. Letztendlich geht es um alltägliche Beobachtungen und Erfahrungen, aus denen künstlerische Interventionen erwachsen, um dann mit den Mitteln der Kunst neue Wahrnehmungsangebote zu generieren. In diesem Sinne handelt es sich nicht um die Beschallung städtischer Ambiente und Wegeräume oder die akustische Berieselung als Konsumgleitmittel in Kaufpassagen. Ausgenommen ist auch die mit Klang kolorierte Atmosphäre von Funktionsräumen wie Fahrstühle oder Hotellobbys, bis hin zur Umkehrung der psychologisch fragwürdigen Stimmungsaufhellungspraxis in Form massiven Einsatzes  klassischer Orchestermusik zur Vertreibung unerwünschter Personen wie auf dem Gelände der Deutschen Bahn am Hamburger Hauptbahnhof.

Die Zielsetzungen, die sich mit diesen Überlegungen verbinden, thematisiert dagegen das ästhetische Gefälle in der rezeptiven Bewertung von Geräusch und Klang, Lärm und Krach. Im Fokus steht dabei alles, was klingt oder hörbar ist, nicht nur der wohltemperierte komponierte Klang einer ausgesuchten Aufführungsmusik, sondern besonders alle Formen von Geräuschen, deren Bedeutung sich sofort aufdrängt und besonders die, deren Erscheinen wir nicht unmittelbar benennen können.

Es kann nicht darum gehen das Störpotential der Geräusche durch Wohlklang zu behübschen, sondern einen grundsätzlich neuen Umgang mit Lärm und Lautstärke einzuleiten, der neben den bekannten Vermeidungsstrategien für ein Umdenken in der Wahrnehmung urbaner Geräuschwelten wirbt und deren musikalisierbares Potenzial hervorhebt und herausarbeitet.

Das Hören sollte dabei auf das Sehen zurückwirken. Viele Hörmomente des Alltags entsprechen dem, was an der Zeichenüberflutung kritisiert wird. Sie täuscht Vielfalt vor, desorientiert aber eher als das sie nutzt und produziert Redundanz statt Vielfalt, was anscheinend der akustischen Wirklichkeit entspricht. Die Geräusche der Stadt sind in der Wahrnehmung von KlangkünstlerInnen allerdings ein Material mit Erlebnisgehalt und der Ausgangspunkt für eine andere Betrachtung des Alltäglichen. Es geht dabei weniger um die Gestaltbarkeit von akustischen Landschaften, sondern primär um die Spezifika des Audiovisuellen. Das viel zitierte Hören und Sehen ist nämlich eher ein Sehen und Hören und dies in einer gesteigerten Praxis von Stadtmenschen  gezwungenermaßen ein Sehen und Weghören. Lässt man sich allerdings ernsthaft auf unsere hörbare Welt ein, so wird die Teilhabe an einem aktiven Prozess möglich, eines Stroms von vielen gleichzeitigen Ereignissen, oft unübersehbar vielfältig und wandelbar und fast in jedem augenblicklichen Hörmoment anders.

Berlin, 2015