Dachschaden

 

 

In meiner Jugend, als ich ungefähr 19 Jahre alt war, besuchte ich die Kunsthalle in Kiel. Da ich am Rande von Europa, also in Dithmarschen und daher auch beinahe exakt geografisch am gegenüberliegenden Rand von Schleswig-Holstein aufwuchs, jedenfalls aus der Perspektive von Kielern, und die Kunsthalle der außerordentlichste Ort für Gegenwartskunst in Schleswig-Holstein war, erhoffte ich mir eine Erweiterung meiner irrational abseitig ländlichen Perspektive durch einen Besuch. Mein Ziel war eine umfassende Präsentation von kuratierten Einzelpositionen der Pop Art, es kann aber auch eine Andy Warhol Ausstellung gewesen sein, sofern ich mich richtig erinnere. Sofort nach Betreten der Ausstellung und in großer Erwartung Originale sehen zu können kulminierte meine ganze Aufmerksamkeit allerdings auf eine Anordnung von unterschiedlichen Eimern, die locker verteilt auf dem Boden des großen Ausstellungsraumes standen. Sie befanden sich in dieser Anordnung um das durch die Decke tropfende Regenwasser aufzufangen, was mir aber erst später klar wurde. Anfänglich war das Szenario in meiner Wahrnehmung keineswegs bestimmt durch einen Dachschaden und die Prävention eines Hausmeisters, sondern durch den auratischen Moment des musealen Kontextes und des Klangs. Für mich war dies eine außergewöhnliche Situation, die mich fesselte und die zufällige Vielfältigkeit der Eimer in ihren Ausführungen ein weiterer Beleg für die Annahme einer künstlerischen Intervention. Dazu kam das äußerst unterhaltsame akustische  Geschehnis der tropfenden Decke, das Spiel der fallenden Tropfen aus großer Höhe, denn es regnete draußen gerade in Strömen und die Art der hörbaren Durchlässigkeit des Daches produzierte ein für meine Ohren bezauberndes Konzert von unterschiedlich schnellen akustischen Impulsen und einer großen Bandbreite resonierender Eimer in diversen Tonhöhen und Rhythmen. Noch nie hatte ich einen solchen konzertanten Moment erfahren, so realitätsnah an der Substanz eines Bauwerks. Ich verstand das Ganze als eine geniale Inszenierung von architektonischen Materialgeräuschen, hier bestimmt durch die Situation unter den Bedingungen der Architektur, des musealen Raums und dem Eigenleben des Flüssigen, des Wassers, mit seinen akustischen Aggregatzuständen. Meine Begeisterung war groß. Auf meine Frage an das Aufsichtspersonal, wer denn die vollen Eimer ausleert und ob dem Ganzen ein komponierter Ablauf zugrunde läge, ergab allerdings sehr schnell und eindeutig, dass nur das Dach der Kunsthalle defekt war und die Eimer den Wasserschaden begrenzten.

Heute, fast 40 Jahre später habe ich Studenten, die mit dieser Strategie Kunst machen. Und das beruhigt mich sehr.

 

Norderheistedt, Februar 2011