Hier und dort bei Nacht
Ich öffne das Fenster meines Zimmers. Unvermittelt dringt die Stadt hoch in den zweiundzwanzigsten Stock. Hier oben, über den Straßen bündeln sich die urbanen Geräusche zu einem großen und pulsierenden Gebilde. Irgendwie gibt es kein Zentrum der Schallausdehnung, es sind viele gleichzeitige Zentren, ohne bestimmte Richtungen und auch ohne Identifikation. Alle Geräusche kommen von unten, aus dieser einen Richtung, wie eine große akustische Wolke, die in die Höhe steigt. So jedenfalls höre ich die Stadt in meinem Zimmer. Ich liege auf dem Bett und höre zu, mein Fenster ist die Öffnung, wie bei einem Ohr, eine Öffnung zur Welt, von Innen nach Außen.
Irgendwo geht immer eine Sirene. Wie eine scheinbar lineare Bewegung im Raum nimmt die Lautstärke dabei ab oder schwillt an in der Tiefe des Raums. Körperlich völlig passiv und regungslos verfolgen meine Ohren jede Veränderung im Hörbild. Nach einer Weile erfahre ich die Anfangs fast konstant empfundenen Geräusche als sich permanent verändernde akustische Elemente im Gefüge. Nur viel langsamer und es sind anscheinend aus vielen Geräuschen zusammengesetzte Impulse und Strömungen. Diese Zusammensetzung ist so diffus, dass sich neue und fremde Höreindrücke bilden. Die einzelnen Bestandteile, wenn man sie überhaupt heraushören kann, sind die aller urbanen Geräusche in der nächtlichen Absenkung, wenn die schrille Aggressivität der bei Tag existierenden Höreindrücke absinkt und diese spezielle nächtliche Transparenz im Hörbild der Geräusche einsetzt.
New York, Oktober 1992