Nicht Ryoân-Ji

 

Irgendwo sitze ich in einem der vielen Zen-Gärten. Mein Interesse gilt zwar zuallererst dem Ort, ich will ihn mir einfach anschauen, doch was ich finde ist eine Insel der Stille, mitten in Kyoto.

Ich sitze und ruhe mich aus und höre die Geräusche des Straßenverkehrs zur Mittagszeit. Niemand sonst hält sich hier auf. Ich befinde mich geografisch mitten in der Stadt, doch hier ist es menschenleer. Ich höre viele Varianten urbanen Geräusches, doch es ist auch merkwürdig still. Meine Selbstvergessenheit reicht nicht soweit, die Geräusche des Straßenverkehrs mit dem Rauschen des Meeres zu verwechseln, aber sonst entspricht meine Rezeption genau diesem Naturgeräusch. Die mehrspurigen Straßen sind anscheinend ein ganzes Stück entfernt, denn sie erreichen mein Ohr wie über eine lange Distanz. Es ist sehr angenehm diese sich dehnende und manchmal dominanter werdende Geräuschlinie aus der Entfernung zu hören. Wie eine Schwebung füllt das Geräusch den Garten, ein weither vorbeiziehender Klang, gleichzeitig in Bewegung und doch konstant, ein sich entfernender Vorgang, der aber zu jedem Zeitpunkt wie von einer Stelle ausgehend gehört werden kann.

Meine Augen wandern den Ort ab, bleiben aber nirgendwo hängen. Meine Ohren konzentrieren sich auf die Ausdehnung des Geräusches, immer wieder höre ich mich hinein in den letzten Rest von Lautstärke, wenn das Geräusch zum Stillstand zu kommen scheint. Dieser verlassene Zengarten,  eine Insel der Stille, mitten in der Stadt scheint am äußersten Rand einer akustischen Ausdehnung zu liegen, denke ich und mir kommt ein Teller in den Sinn, viele Teller, die sich transparent überlagern. An einem dieser Tellerränder befinden sich meine Ohren wohl gerade.

Kyoto, Oktober 1994